Zuwanderung: Wollen wir wirklich diese vergifteten Debatten?
Eine neue Gen-Analyse wirft erstmals einen Blick auf die familiären Wurzeln der mehr als 5.000 Jahre alten Gletschermumie Ötzi. Seine Vorfahren kamen nämlich nicht aus den Alpen, sondern aus Anatolien.
Migration – um es nur an Ötzi aufzuzeigen – ist also wahrlich kein Thema unserer Tage.
Und dennoch erleben wir tagtäglich, dass es für viele ein Reizthema ist. Der Austausch über die Aufnahme Geflüchteter, die Zuwanderung von Fachkräften und der Diskurs über eine gelingende Integration endet auch unter Menschen, die sich verwandtschaftlich oder freundschaftlich verbunden sind, oftmals unversöhnlich und im Streit.
Und daran ändert auch die Tatsache wenig, dass man samstags dem für den eigenen Bundesligaverein aktiven Fußballprofi mit Migrationsgeschichte zujubelt, während man vor und nach dem Spiel Menschen mit Migrationsgeschichte die Würde abspricht.
Auch im politischen Meinungsstreit gehen die Meinungen weit auseinander, ob Zuwanderung begrenzt werden muss, weil sie den Wohlstand gefährdet, oder ist sie sowohl aus humanitären, als auch volkswirtschaftlichen Erfordernissen notwendig, gerade dann, wenn wir die Überalterung unserer Gesellschaft und das bevorstehende Ausscheiden vieler aus dem aktiven Berufsleben vor
Augen haben. Mit den Babyboomern werden in den kommenden zehn Jahren in vielen Unternehmungen, darunter auch Kliniken und Pflegeheime, rund 30 Prozent der Belegschaft ausscheiden.
Kein anderes Politikfeld, auch nicht der Klimawandel, polarisiert nach den Erhebungen der TU Dresden in Deutschland und weiteren neun in die Betrachtung einbezogenen europäischen Ländern so stark wie die Frage der Zuwanderung.
Damit wird die Grundlage für den gesellschaftlichen Diskurs, der auf der Zulässigkeit und Akzeptanz anderer Meinungen basiert, so lange sie sich im demokratischen Spektrum bewegen, in Frage gestellt. Eine Verständigung wird nahezu unmöglich gemacht. Und das wiederum löst keine konkreten Probleme.
Und da ist der Punkt, an dem die Fakten in den Blick zu nehmen sind, wo es gilt, sich ehrlich zu machen.
Aktuell leben in Deutschland mit seinen 83,8 Millionen Menschen 24 Millionen Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte. Sie sind hierher eingewandert, auf der Basis von Anwerbeabkommen wie zum Beispiel im Jahre 1961 zwischen Deutschland und der Türkei abgeschlossen, um Fachkräfte für die boomende Wirtschaft zu gewinnen, oder haben zumindest einen Elternteil, der nicht in Deutschland geboren ist.
Das sind nahezu 29 Prozent unserer Bevölkerung, also mehr als jede vierte Person! Bei Kindern unter fünf Jahren sind es mehr als 40 Prozent.Und so wächst auch in unseren Parlamenten der Anteil der Abgeordneten mit einer Migrationsgeschichte. Allein im Deutschen Bundestag sitzen inzwischen – verteilt auf alle Fraktionen – 83 Abgeordnete, die ihre Wurzeln in Polen, Tschechien, Marokko, der Türkei, Jemen oder dem Irak haben.
Migration, über die so viel und so kontrovers gestritten wird, ist alles andere als ein Sonderfall unserer Tage. Sie ist ein Teil der Menschheitsgeschichte, nicht nur wenn wir auf Ötzi blicken und sie ist auch elementarer Bestandteil der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Und alleine dieser Befund sollte doch Veranlassung sein, endlich das Gift aus der Diskussion herauszunehmen.