Es wird niemals eine ausgestreckte Hand an Rechtsextreme geben

Es ist gute Tradition, dass die Wetzlarer SPD zum Jahresempfang einen besonderen Gast einlädt. So waren in der Vergangenheit bereits Größen wie die Berliner Bürgermeisterin Franziska Giffey und die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor Ort, um über die Bundespolitik zu berichten und mit den Gästen ins Gespräch zu kommen. In diesem Jahr hatte sich erneut ein bundespolitisches Schwergewicht angekündigt: Mit Lars Klingbeil, der zusammen mit Saskia Esken den Vorsitz der SPD innehat, war der Mann zu Gast, der im Bundestagswahlkampf 2021 für die letztendlich erfolgreiche strategische Ausrichtung der Partei als damaliger Generalsekretär Verantwortung trug.

Ein Mann, dem viele zutrauen, dass er mit 45 Jahren noch lange nicht am Ende seiner politischen Karriere angelangt ist und der ganz nebenbei auch Sympathie und Respekt über die Parteigrenzen hinweg genießt.

 

Und so ist es nicht verwunderlich, dass der Saal des Steindorfer Tannenhofes gut gefüllt ist, als Oberbürgermeister Manfred Wagner die Bühne betritt, um die 150 Gäste aus Gesellschaft und Politik zu begrüßen und auf den Abend einzustimmen. Auch die heimische Bundestagsabgeordnete Dagmar Schmidt, die Landtagsabgeordneten Matthias Büger und Stephan Grüger sowie Cirsten Kunz, die für den Hessischen Landtag kandidiert und der frisch gekürte Landratskandidat Frank Inderthal haben sich eingefunden.

 

Es sind schwierige Zeiten, in denen diesmal die Veranstaltung stattfindet, das weiß auch Wagner, der konstatiert, dass Vieles, was wir als konstant angesehen haben, in Frage steht: Umbrüche durch die Pandemie, der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine, die daraus folgende Energiekrise, steigende Zinsen, die Klimaveränderung und der Mangel an Arbeitskräften. Die Liste ist lang. Und doch kann die Sehnsucht nach der Zeit davor keine Lösung bringen. Und so zitiert Wagner den ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann: „ Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, war er bewahren möchte.“

Zwei, die gerne als Mitglieder des nächsten Hessischen Landtages etwas verändern möchten, stellen sich anschließend auf der Bühne den Interviewfragen von Sandra Ihne-Köneke: Cirsten Kunz bewirbt sich im Wahlkreis 16 und Stephan Grüger im Wahlkreis 17 für das Direktmandat.

 

Und dann ist er da: Ohne großes Verweilen an seinem Platz im Saal, geht Lars Klingbeil nach kurzem Händeschütteln direkt auf die Bühne. Er weiß, wie die Stimmung im Land ist und er spricht diese auch offen an. Er weiß aber auch, dass man durch mannschaftliche Geschlossenheit Vertrauen wieder zurückgewinnen kann. „Der Wahlkampf in Hessen fange gerade erst an“, so Klingbeil. Im Vorfeld der Bundestagswahl sei er in Talk-Shows zuweilen belächelt worden, weil die SPD trotz schlechter Umfragewerte einen Kanzlerkandidaten aufgestellt habe. Erst vier Wochen vor der Wahl hätten viele angefangen zu glauben, dass Scholz Kanzler werden könne. Und dann wirbt er für die hessische Spitzenkandidatin: „Nancy Faeser trägt Hessen im Herzen“, so der 1,96 Meter große Gast aus Berlin.

 

Und er lobt Faeser ausdrücklich für das Entwickeln europäischer Lösungen in der Migrationsfrage: „Nancy Faeser räumt auf, was 16 Jahre versäumt wurde.“ Er stellt auch klar, dass Menschen, die keine Berechtigung zum Bleiben hätten, schnell wieder gehen müssten. Dies sei in beiderseitigem Interesse.

 

Und dann nimmt er einen Rundumblick, was die politische und gesellschaftliche Lage angeht, die viele verunsichert. „Wahnsinn, was gerade passiert“, fasst er zusammen und konstatiert, dass es früher auch schon Zeiten gegeben habe, in denen man ausschweifend über die Umstellung von Sommer- auf Winterzeit diskutiert habe.

 

Heute indes entstehe eine neue Ordnung auf der Weltkarte, indem sich unter anderem Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika zu den BRICS-Staaten zusammengeschlossen hätten. Und er warnt: „Deutschland und Europa müssen aufpassen, nicht unter die Räder zu kommen.“

 

Zum Thema Klimapolitik, bei der die Berliner Regierung durch den Streit zwischen Grünen und FDP sicherlich für viel Verunsicherung bei den Menschen gesorgt hat, betont er, dass das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 sich nicht zwei oder drei Leute in Berlin ausgedacht hätten. „Es geht um die Zukunft nachfolgender Generationen“, so der Parteivorsitzende. Und zur berechtigten Kritik an der Ampelkoalitionen an dieser Stelle: „Wir haben gelernt, wie wir es nicht machen dürfen.“

 

Im Prozess der wirtschaftlichen Veränderung komme es insbesondere auf die SPD an. Denn diese stehe dafür, dass auch bei Veränderungen Arbeitsplätze zu vernünftigen Konditionen erhalten werden könnten. Gleichzeitig müsse der Sozialstaat funktionieren. Hierfür sei die Einführung des Bürgergeldes ein wichtiger Baustein. Hierin liege kein Widerspruch. Wer der Meinung sei, dass das Lohnabstandsgebot dadurch nicht eingehalten werde, müsse für höhere Löhne streiten, und nicht bei den Bedürftigen sparen wollen.

 

Und natürlich weiß Klingbeil, dass die Verunsicherung, die die genannten Herausforderungen mit sich bringen, manche Menschen dazu bewegen kann, sich extremistischen Strömungen zuzuwenden. Und er stellt für die SPD klar: „Es wird niemals eine ausgestreckte Hand an Rechtsextreme geben.“

 

Und dann geht er auf das Treffen der „wahren Schwarmintelligenz“ in Wetzlar ein, bei dem sich Vertreter der CDU, darunter Hans-Georg Maßen und Hans-Jürgen Irmer mit Vertretern der AfD „offen die Hand gereicht“ hätten. „Das Schweigen der Union zu diesem Thema bedrückt mich: Kein Wort des Ministerpräsidenten“, so der Gast aus Berlin.

 

Er nehme die Sorgen der Menschen sehr ernst, aber wir sollten auch nicht alles schlecht reden. „Ich habe noch kein Land kennengelernt, in dem ich lieber leben möchte“, fügt er hinzu und erntet nicht zum ersten Mal großen Applaus.

 

Dann stellt er sich den Fragen und Anregungen der Gäste: Olaf Scholz solle ruhig mal etwas öfter und lauter zu hören sein, wird da gefordert. Authentisch sei der Kanzler und im Zweifelsfall auch wild entschlossen, wie jüngst im Bundestag, so Klingbeil. Scholz sei keiner, der die Dinge nach Umfragewerten durchdenke, rechtfertigt er den Kanzler. Und er verweist auf die Alternativen: „Stellt euch nur mal vor, der Söder würde regieren.“ Fünf Tage habe dieser gebraucht, um in der Causa Aiwanger eine Haltung zu entwickeln.

 

Nicht nur an diesem Punkt gelingt es dem SPD-Vorsitzenden zu überzeugen. Gerade auch, weil er Themen nicht wegdiskutieren oder anderseits Menschen nach dem Mund reden möchte. Er überzeugt argumentativ, lässt Gegensätze aber auch schon mal stehen. „Da musst Du jetzt durch, dass ich anderer Meinung bin“ antwortet er beispielsweise auf den Vorwurf, dass die SPD in Sachen Klimapolitik nicht richtig sichtbar sei. Und er unternimmt nicht den Versuch perfekt zu sein. Bei der Frage der Rentenbesteuerung fragt er, ob er mit Dagmar Schmidt, die an aktuellen Vorlagen zu dem Thema arbeite, einen Joker nutzen dürfe. Das kommt an bei den Menschen. „Der könnte auch Kanzler“, raunt ein Gast halblaut.

 

Bevor Lars Klingbeil die Bühne verlässt, um für persönliche Gespräche und Erinnerungsbilder zur Verfügung zu stehen, wird er nochmal ernst. Er verweist auf das Ausland und den Hass in der Politik: „Wir leben in wahnsinnig polarisierenden Zeiten. Auch in Deutschland ist es nicht gottgegeben, dass es ein Wettstreit unter Demokraten bleibt.“ In den meisten europäischen Ländern und den USA habe man inzwischen nur noch die Wahl zwischen einem populistischen Radikalen und einem Demokraten.

 

„Sie alle können mithelfen, dass das in Deutschland nicht passiert. Dann tun Sie Ihrem Land einen großen Gefallen.“ Hierfür erntet er langanhaltenden Beifall.